Solastalgie
Umweltliche Degradationsprozesse sind zu einem täglichen Bestandteil der Nachrichten geworden: Ressourcenabbau, Umweltverschmutzung, Klimawandelfolgen, Artensterben, aber auch Gentrifizierung und Krieg. Manche dieser Prozesse sind aggressiv und radikal, während andere eher graduelle, subtile Transformationen hervorbringen. Was sie eint, ist, dass sie vertraute, von uns als ‚Zuhause‘ identifizierte Umwelten auf befremdliche Weise verändern können: Sie beeinträchtigen ihr Aussehen, entwerten umweltbezogenes Wissen und erschweren oder verunmöglichen gewohnte Interaktionen sowie kulturelle Traditionen, die bislang mit bestimmten Umweltelementen verbunden waren.
Selbst wenn Menschen ihr Zuhause nicht verlassen, kann sich durch solche unerwünschten umweltlichen Veränderungsprozesse ein Gefühl einschleichen, dass das eigene Zuhause sie verlässt und ihnen fremder wird. Dieser emotionale Zustand wird als ‚Solastalgie‘ bezeichnet (‚missing home while being home‘[1]). Der australische Umweltwissenschaftler Glenn A. Albrecht hat den Begriff 2003 zum ersten Mal einem wissenschaftlichen Publikum vorgestellt.[2] In einigen Kulturkreisen, in denen umweltliche Veränderung das menschliche Leben bereits seit längerer Zeit stark verändert hat, haben Menschen für solche Emotionszustände schon eigene Begriffe gefunden. Sie machen deutlich, um was es bei diesem Befremdungsgefühl geht:
„The Hopi have used the word koyaanisqatsi to describe conditions where human life is disintegrating and out of balance with the world. The Portuguese use the word saudade to describe a feeling a person has for a loved one, perhaps a loved place, that is absent or has disappeared. […] The Baffin Island Inuit of the Arctic have recently applied the word uggianaqtuq to the changing climate and weather. The word means to behave unexpectedly or in an unfamiliar way and has connotations of a ‘friend acting strangely’ or in an unpredictable way. But now it is the Arctic weather that has become uggianaqtuq to them.”[3]
Wie sich Solastalgie äußert, variiert individuell und entscheidet sich auch je nach ursächlichem Ereignis – von der Feststellung erster Unregelmäßigkeiten in gewohnten Qualitäten der eigenen Umweltbeziehung über Fragen nach Zugehörigkeit, Kontrolle und Identität bis hin zu psychosomatischen Belastungsreaktionen auf ein existentielles Verlust- und Ohnmachtsempfinden.[4] Darin ähnelt Solastalgie anderen ‚psychoterratischen‘ Emotionszuständen wie Klimaangst oder Klimatrauer, bei denen die menschliche Gesundheit an bzw. mit dem verwüsteten Zustand der Umwelt Schaden nimmt. Diesen Parallelisierungs- oder Spiegelungseffekt kann man auch mit ‚eco empathy‘ beschreiben: Menschen resonieren emotional und mental mit der Beobachtung verheerender Auswüchse eines dysfunktionalen Mensch-Umwelt-Verhältnisses und entwickeln aus dem Bewusstsein über diese Schieflage ein tiefgreifendes Gefühl von Furcht, Bedrohung und Trauer – oft verbunden mit einem wachsenden Bewusstsein für die tiefe Verwurzelung in ihrer eigenen mehr-als-menschlichen Umwelt.[5]
Im Jahr 2003 gab es im angloamerikanischen Sprachraum noch keinen Begriff, der das Gefühl, einen wertgeschätzten Teil dieser Welt zu verlieren, abgebildet hat, sodass Albrecht aus den Wortbestandteilen solatium (lat. Trost) und -algia (neulat. Schmerz, Trauer) einen eigenen Begriff kreiert hat, um dem mittlerweile auch im sog. globalen Norden beobachteten Emotionszustand eine sprachliche Form zu geben. Seitdem steigen international und interdisziplinär die Publikationszahlen zu Solastalgie.[6] Immer mehr Menschen können sich mit dem Emotionszustand identifizieren – entweder aufgrund degradativer Prozesse in ihrer unmittelbaren Umgebung oder medial vermittelt angesichts globaler Nachrichten von der Zerstörung unserer planetaren Lebensgrundlagen – und das Konzept findet zunehmend auch Eingang in die außerwissenschaftliche Medienberichterstattung.
Solastalgie in den Alpen?
In meiner Dissertation beschäftige ich mich spezifisch mit klimawandelbedingter Solastalgie. Dafür arbeite ich in den Alpen, die Klimawandelfolgen im Vergleich zum kontinentaleuropäischen Flachland in besonderem Maße ausgesetzt sind: Doppelt so schnell steigende Temperaturen, abnehmende Schneedecke, Gletscherschmelze, verlängerte Vegetationsperioden, ökosystemische Verschiebungen, vermehrte Schlagwetterereignisse und veränderter Gesteinszusammenhalt – das Leben und Arbeiten in dieser sensiblen mehr-als-menschlichen Berglebenswelt ist dadurch vor Herausforderungen und z.T. existentielle Bedrohungsszenarien gestellt.
Wesen und Geschwindigkeit dieser Veränderungen stellen sich alpenweit allerdings höchst unterschiedlich dar. In den Allgäuer Alpen, dem Ausgangspunkt meiner Forschung, vollzieht sich der Klimawandel eher chronisch-subtil. Menschen registrieren klimawandelbedingte Veränderung durchaus, doch im Konglomerat verschiedenster alpiner Entwicklungen erlangt sie eher punktuell Aufmerksamkeit. Die Gründe dafür sind vielfältig – in der traditionellen Alpwirtschaft beispielsweise, die wesentlich auf ihre Umwelt abgestimmt ist und daher gegenüber dem Klimawandel als besonders exponiert gelten kann, scheint die unmittelbare Herausforderung der täglichen Arbeit eine emotionale Auseinandersetzung mit größeren Veränderungslinien vorläufig in den Hintergrund zu rücken; emotional hoch aufgeladene Debatten rund um die Rückkehr von Beutegreifern wie Wolf und Bär überlagern potenziell andere emotionale Reaktionen auf Umweltveränderung; Einheimische berufen sich regelmäßig auf eine hohe Anpassungstradition im alpinen Leben und Arbeiten, die zusammen mit dem überwiegend intakten Landschaftsbild der Allgäuer Idylle zu einer Normalisierung und Naturalisierung von Gefahren und einer gewissermaßen resistenten Perspektive auf klimawandelbedingte Veränderung beizutragen scheint. Ob es dabei um Formen von Rationalisierung, Abwehr oder Verdrängung geht (‚we see it happening (…) and we don’t see it happening at exactly the same time‘[7]) oder um eine Art pragmatische Marginalisierung, bleibt zu klären.
Bei schleichenden Klimawandelfolgen entsteht Solastalgie weniger durch die Erfahrung von umweltlicher Verwüstung, auf die Menschen mit ‚eco empathy‘ reagieren, sondern eher vermittelt durch Unregelmäßigkeiten in den vertrauten Qualitäten ihrer Umweltbeziehung auf alltagskultureller Ebene. Ob etwa Veränderungen auf gewohnten Wanderwegen, die Schließung von Skiliften mangels Schnee, oder Wetterregeln, die an Gültigkeit verlieren, – es sind solche alltäglichen ‚Störfaktoren‘, durch die der in seiner Gradualität abstrakte Klimawandel in den Alpen greifbar wird und seine emotionale Wirkung entfaltet. Ergänzend zu meiner bisherigen Arbeit, die sich auf die traditionelle Allgäuer Alpwirtschaft konzentriert, habe ich mich entschieden, ein umfassenderes Bild der klimawandelbedingten Formen von ‚cultural distress‘ im alpin geprägten Allgäu zusammensetzen zu wollen. Mit welchen Klimawandelfolgen sehen sich Menschen in ihrem Alltag konfrontiert? Welche Umweltveränderungen oder kulturellen ‚Symptome‘ ordnen sie dieser Entwicklung überhaupt zu? In einem ersten Schritt greife ich dafür auf reflexive Methoden zurück (Aufruf zur Einsendung von Fotografien und Sprachnachrichten, in denen alltäglich beobachtete Klimawandelfolgen dokumentiert werden, über Gastbeiträge in regionalen Nachrichtenmedien). In einem zweiten Schritt soll es dann darum gehen, durch qualitative Interviews den emotionalen und reflexiven Facetten nachzuspüren, die die Medialisierung der im Alltag beobachteten Klimawandelfolgen begleiten.
Die gesellschaftliche Relevanz meines Promotionsprojektes liegt auf der Hand: Schleichende Umweltveränderungen betreffen im Klimawandel potenziell Millionen von Menschen weltweit.[8] Das Verständnis für ihre emotionale und mentale Rezeption im Alltag zu vertiefen, stellt eine grundlegende Voraussetzung für die Gestaltung integrativer gesellschaftlicher Transformationsprozesse dar. Anders gesagt: „Unless we find a way to integrate that emotional with the scientific change, we’re not gonna find the solutions [to address climate change] that we need”.[9]
[1] Climate Psychiatry Alliance (o.A.a): Solastalgia: Missing Home While Being Home. URL: https://www.climatepsychiatry.org/major-topics-in-climate-psychiatry/solastalgia-missing-home-while-being-home [Stand: 24.08.25].
[2] Glenn A. Albrecht (2005): ‘Solastalgia’: A New Concept in Health and Identity. In: PAN: Philosophy Activism Nature 3, S. 44-59.
[3] Glenn A. Albrecht (2010): Solastalgia and the Creation of New Ways of Living. In: Pilgrim, Sarah/Pretty, J.: Nature and Culture. Rebuilding Lost Connections. London, Washington, S. 217.
[4] Albrecht 2005, S. 49, 57; Albrecht 2010, S. 218-220, 228; Lars Moratis (2021): Proposing Anticipated Solastalgia as a New Concept on the Human-Ecosystem Health Nexus. In: EcoHealth 18, S. 412. doi: 10.1007/s10393-021-01537-9; Juliane Prade-Weiss (2021): For Want of a Respondent: Climate Guilt, Solastalgia, and Responsiveness. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 96/2, S. 198. doi: 10.1080/00168890.2021.1897503; Maxi Riemenschneider (2014): Braunkohlerevier Lausitz – inwiefern beeinflusst dies das subjektive Wohlbefinden der lokalen Bevölkerung? Eine Untersuchung unter Anwendung des Konzeptes der Solastalgia. Freie Universität Berlin: Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie. Bachelorarbeit, S. 20.
[5] Die mehrfach ausgezeichnete Fotografin Michelle Ferreira hat jüngst ein künstlerisches Projekt unter dem Titel ‚Eco-Empathy: A Photographic Exploration of Solastalgia‘ umgesetzt. In einem Beitrag auf der Webseite des ‚Network in Canadian History & Environment‘ vom 20.02.2024 berichtet sie davon: https://niche-canada.org/2024/02/20/eco-empathy-a-photographic-exploration-of-solastalgia/ [Stand: 24.07.25].
[6] Lindsay P. Galway/Thomas Beery/Kelsey Jones-Casey/Kirsti Tasala (2019): Mapping the Solastalgia Literature: A Scoping Review Study. In: Int. J. Environ. Res. Public Health 16/2662, S. 1-24. doi: 10.3390/ijerph16152662.
[7] Tedx Talks (23.03.2016): Psychological barriers to climate change | Caroline Hickman | TEDxBathUniversity. URL: https://www.youtube.com/watch?v=5yXDHazepUw [Stand: 24.08.25], t = 11:33-11:40 min.
[8] Christopher Phillips/C. Murphy (2021): Solastalgia, Place Attachment and Disruption: Insights from a Coastal Community on the Front Line. In: Regional Environmental Change, 21/46, S. 2. doi: 10.1007/s10113-021-01778-y; Climate Psychiatry Alliance (o.A.b): When Disasters Creep In: Impacts of Slow Events. URL: https://www.climatepsychiatry.org/major-topics-in-climate-psychiatry/when-disasters-creep-in-impacts-of-slow-events [Stand: 24.08.25].
[9] TedxTalks 2016, t = 9:31-9:40 min.