Menschliche Aktivitäten erstrecken sich heute auf fast alle Lebensräume weltweit. Selbst Natur- und Schutzgebiete stehen unter Druck, was auf den massiven weltweiten Anstieg des naturbasierten Tourismus und der Freizeitaktivitäten in Freien in den letzten Jahrzehnten zurückzuführen ist. Während Freizeitaktivitäten in der freien Natur oft als mit dem Naturschutz vereinbar angesehen werden, werden sie aufgrund von „Störeffekten“, das heißt Veränderungen des Verhaltens und/oder der Physiologie von Tieren, die durch die Anwesenheit des Menschen ausgelöst werden, zunehmend als bedenklich für den Naturschutz betrachtet. Das Verhalten von Tieren spielt eine wichtige Rolle bei der Gestaltung ökologischer Prozesse; daher haben vom Menschen verursachte Veränderungen des Tierverhaltens oft (negative) Folgen für Individuen und Populationen. Andererseits gibt es immer mehr Belege dafür, dass Wildtiere auch eine Verhaltenstoleranz gegenüber Menschen entwickeln können, das heißt eine reduzierte oder fehlende Reaktion auf den Menschen. Die Mechanismen, die den unterschiedlichen Reaktionen auf menschliche Aktivitäten zugrunde liegen, sind jedoch unklar, und empirische Belege beschränken sich derzeit auf einen Teil von Tierarten und Kontexten.
In dieser Arbeit habe ich die Auswirkungen und die zugrundeliegenden Mechanismen von nicht-konsumtiven Freizeitaktivitäten und der Jagd auf das Verhalten, die Physiologie und die Sozialstruktur von Wildtieren untersucht. Das Alpenmurmeltier Marmota marmota diente mir dabei als Hauptmodellart. Murmeltiere eignen sich hervorragend für Verhaltensstudien, da sie leicht einzufangen und zu markieren sind und, mit kleinen Territorien in offenen alpinen Graslandschaften, leicht zu beobachten und zu lokalisieren sind. Zudem befindet sich der Lebensraum des Murmeltiers häufig in touristischen Gebieten, und die Schutzregelungen für die Art sind lokal unterschiedlich, was Möglichkeiten für vergleichende Studien zur Untersuchung der Auswirkungen verschiedener menschlicher Aktivitäten eröffnet. Methodisch stützte ich mich sowohl auf etablierte Methoden, einschließlich direkter Beobachtungen und Verhaltensreaktionstests, als auch auf neuere Methoden, wie die Analyse von Cortisol-Stoffwechselprodukten aus Kotproben zur Bewertung von physiologischem Stress sowie Biologging und Sozialer-Netzwerkanalyse zur Untersuchung der Sozialstrukturen von Murmeltieren.
Im Einführungskapitel gebe ich einen Überblick über die Bedeutung des Tierverhaltens für ökologische Prozesse und den Naturschutz, den Einfluss des Menschen auf das Verhalten und die Sozialstruktur von Wildtieren sowie über Methoden zur Untersuchung von Mensch-Wildtier-Interaktionen. Darüber hinaus stelle ich das Alpenmurmeltier als Haupt-Modellart vor. In Kapitel 2 lege ich die Grundlage für die Untersuchung von physiologischem Stress als Reaktion auf menschliche Störungen, indem ich erfolgreich einen Enzym-Immunoassay validiere, mit dem die adrenokortikale Aktivität bei Alpenmurmeltieren verfolgt werden kann. In Kapitel 3 untersuche ich die Auswirkungen von nicht-konsumtiven Freizeitaktivitäten im Freien auf das Verhalten und den physiologischen Stress von Murmeltieren und zeige, dass menschliche Aktivitäten zwar in bestimmten Situationen Störungen verursachen können, Murmeltiere aber auch verhaltenstolerant sein können, insbesondere wenn die Tiere insgesamt verstärkt menschlichen Aktivitäten ausgesetzt sind. In Kapitel 4 bewerte ich mögliche Auswirkungen des Einfangens – ein integraler Bestandteil der Feldmethoden dieser Arbeit – auf die Verhaltenstoleranz von Murmeltieren gegenüber Menschen, gemessen als Flucht-Initiations-Distanz (FID) zu einer sich nähernden Person. Es gab keine Hinweise auf eine Auswirkung des Einfangens auf die FID, daher ist es unwahrscheinlich, dass das Einfangen die Ergebnisse des nächsten Kapitels beeinflusst hat, welches die FID von Murmeltieren in Zusammenhang mit unterschiedlichen menschlichen Aktivitäten untersucht. In Kapitel 5 zeige ich, dass Murmeltiere aus Gebieten, in denen sie bejagt werden, höhere FIDs aufweisen als in Gebieten, in denen sie nur nicht-konsumtiven menschlichen Aktivitäten, beispielsweise Wandern, ausgesetzt sind. Die Art der Erfahrungen, die Tiere mit Menschen machen, scheint also eine wichtige Rolle bei der Ausprägung der Toleranz gegenüber dem Menschen zu spielen. In Kapitel 6 schlage ich einen neuen mechanistischen Forschungsrahmen vor, der die Verhaltensreaktionen von Wildtieren gegenüber Menschen auf einem Kontinuum zwischen Vermeidung – Annäherung darstellt und damit das vorherrschende Paradigma in Frage stellt, dass Wildtiere den Menschen in erster Linie als Raubtier wahrnehmen und standardmäßig mit Vermeidung reagieren. Anhand verschiedener Fallstudien zu verschiedenen Populationen, Arten und Taxa weltweit zeige ich, dass historische und gegenwärtige Erfahrungen mit dem Menschen – ob harmlos oder schädigend für Tiere – bestimmen, wo eine Population auf diesem Kontinuum fällt. In Kapitel 7 untersuche ich sozialen Rollen in Gruppen des Gelbbauchmurmeltiers Marmota flaviventris, wobei ich direkte Beobachtungen zur Erfassung sozialer Assoziationen und soziale Netzwerkanalyse zur Untersuchung der Sozialstruktur des Murmeltiers verwende. Anhand von simulierten Knockout-Experimenten zeige ich, dass das Entfernen von Individuen aus verschiedenen Alters- und Geschlechtsgruppen die Sozialstruktur von Murmeltieren unterschiedlich beeinflusst. Dies verdeutlicht, wie die Jagd, die in der Regel selektiv auf bestimmte Alters- und Geschlechtsklassen (oft erwachsene Männchen) abzielt, die Sozialstruktur stören könnte. In Kapitel 8 teste ich von Tieren getragene „Proximity Logger“ zur Erfassung hochauflösender sozialer Daten, die es ermöglichen, die Auswirkungen anthropogener Störungen auf soziale Netzwerke von Tieren in realen Szenarien zu untersuchen. Obwohl es sich hierbei nur um eine Pilotstudie handelt, bietet sie erste faszinierende Einblicke in das Potenzial der automatisierten Datenerfassung zur Untersuchung sozialer Dynamiken in feinem Maßstab.
In Kapitel 9 fasse ich schließlich die zentralen Ergebnisse dieser Arbeit zusammen, erörtere sie im Kontext ihres breiteren Forschungsgebiets und zeige ihre Implikationen für das Management und künftige Anwendungen auf. Insgesamt trägt diese Arbeit zu einem besseren Verständnis der nicht-letalen Auswirkungen von Freizeitaktivitäten in der Natur und der Jagd auf Wildtiere sowie der Anpassungen von Wildtieren an menschliche Aktivität bei.