Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH
Leiter der Forschungsgruppe
Digitale Mobilität u. gesellschaftliche Differenzierung
Reichpietschufer 50
10785 Berlin
Die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Friedrichshain-Kreuzberg hat im Sommer 2022 beschlossen, im Graefekiez, einem innerstädtischen Berliner Altbauquartier, flächendeckend Stellplätze für private Pkw für andere Nutzungen umzuwandeln. Als Begründung diente die Erhöhung der Schulwegsicherheit und den Weg zu einer klimaresilienten Stadt zu befördern. Auf den freigewordenen Flächen sollten Lade- und Lieferzonen und Sharing-Angebote eingerichtet sowie Flächen entsiegelt werden.
Von der BVV wurde der Weg zu diesem Ziel nicht definiert, methodisch wurde lediglich festgelegt, dass es sich um einen Verkehrsversuch handeln sollte, der nach sechs Monaten evaluiert und dann nochmals bewertet wird. Festgeschrieben wurde dazu auch die wissenschaftliche Begleitung durch das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
Insgesamt gesehen war und ist die Kommunikation mit den Anwohnenden, dem Gewerbe, den lokalen Initiativen und Interessengruppen für die Akzeptanzsicherung und den Erfolg einer Verkehrswendemaßnahme sehr wichtig. Die Akteure erhalten wichtige Informationen zu den Problemlagen im Gebiet, zugleich können O-Töne zu den Wünschen und Ideen der Menschen und eine Einschätzung der Stimmung vor Ort hilft zur Justierung der Maßnahmen durch das Bezirksamt gesammelt werden. Diese Form der Beteiligung darf dabei aber nicht mit einem Vetorecht verwechselt werden und sollte so auch nicht kommuniziert werden. Über die Legitimation einer Verkehrswendemaßnahme wird allein im politisch-parlamentarischen Raum entschieden, die Umsetzung liegt bei der dafür legitimierten Verwaltung. Hinzu kommt, dass bei solchen Beteiligungen eine oft wahrzunehmende Dominanz von Gruppen entsteht, die bereits sehr viel Erfahrung in der Praxis alternativer Bewegungsformen haben und dann den Projektzielen auch schaden können, wenn damit Lebenspraktiken popularisiert und absolut gesetzt werden, die aber gar nicht mehrheitsfähig sind.
Ein weiterer und nur mittelbar mit dem Verkehrsversuch verbundener Aspekt, der bislang noch kaum erfasst wurde, sind die Vorbehalte gegenüber den neu entstehenden Stadträumen. Die Befragten im Kiez sowie auch die Teilnehmenden an Veranstaltungen äußerten oft ihre Befürchtungen, dass mit einer Aufwertung der Aufenthaltsqualität auch die Zahl der Besuchenden deutlich zunimmt und damit auch der Lärm und die Vermüllung. Damit einher geht die bereits oft auch zitierte Angst vor einer weiter ansteigenden Gentrifizierung des Kiezes. Schließlich zeigen sich sowohl in den repräsentativen Befragungen als auch in den Fokusgruppen und Gesprächen vor Ort neben Zustimmung auch Vorbehalte gegenüber den Mobilitätsstationen.
Für die Kommunikation einer Maßnahme wie das Projekt Graefekiez sind Bausteine für den Erfolg wichtig:
• klare Definition der Ausgangslage und der Ziele
• Beschreibung der Maßnahmen
• Dokumentation einer Beteiligung
• Absicherung der Maßnahmen in einer integrierten Gesamtbetrachtung mit Interessenabwägung
• politische Bestätigung durch die BVV
Selbst in einem Quartier wie dem Graefekiez zeigt sich immer noch die vorherrschende Bedeutung des Autos in den mentalen Dispositionen. Die Phantasie der Menschen, sich ihre eigenen Städte mit deutlich weniger Fahrzeugen vorzustellen, muss noch weiter aktiviert werden. Zur erfolgreichen Umsetzung einer Verkehrswende sind daher auch objektive Gegebenheiten wie die geringe Fahrzeugbesitzquote verbunden mit alternativen Nutzungen, aber auch der unbedingte politische Wille einer Umsetzung notwendige Voraussetzungen.
Im Kern machte das Vorhaben deutlich, dass in Stadtteilen mit hoher Verdichtung, guten Verkehrsanschlüssen und hohem Versorgungsgrad eine Veränderung des Verkehrsverhaltens eingesetzt hat:
- es wird deutlich weniger Auto gefahren
- dass das „zu Fuß gehen“ sehr stark zugelegt hat
- dass das Fahrrad und die Sharing-Angebote weiter an Bedeutung gewinnen und
- dass der ÖPNV auf hohem Niveau stagniert.
Aus der speziellen Perspektive von Kindern gibt es keine fahrenden und parkenden Autos auf den Straßen, auch keine Radfahrende, sondern Sitzflächen, Grünflächen, Spielflächen und beleuchtete und bunte Fassaden. Alle Wege sollen sicher sein. Daraus entwickeln sich auch veränderte Präferenzen, es gibt eine deutliche Mehrheit für weniger Autos.
Das Vorhaben hat für die weitere Verhandlung mit dem Bezirksamt empfohlen, den Straßenraum neu aufzuteilen.
Zwischenzeitlich wurde die StVO novelliert. Sie eröffnet für die Kommunen handfeste Vereinfachungen, beispielsweise bei der Einrichtung von Busspuren oder bei mehr Platz für das Radfahren und Zufußgehen. Fachkreise plädieren grundsätzlich für eine Kombination von Maßnahmen nach der StVO mit einem planungsrechtlichen Vorgehen über Bebauungspläne, Flächennutzungspläne oder einfache Maßnahmen in der eigenen Baulastträgerschaft sowie dem Parkraummanagement.
Das Vorhaben hat schließlich auch gezeigt, dass die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Kommune zwar gut verlaufen ist, aber noch weiter optimiert und sich aus strukturellen Zwängen befreien sollte. Problem ist, das sowohl Verwaltungen als auch Wissenschaft sehr tradiert nach ihren eigenen „üblichen“ Verfahrensweisen agieren. Die Lösung könnte ein Policy Lab sein, in dem beide Partner*innen unter neuen Regeln arbeiten und gemeinsam Synergien schaffen. Die Erfahrungen mit den bisherigen Vorhaben sollten daher in die Konkretion eines solchen Policy Labs einfließen.
„Andreas Knie (2025): Wo kommen bloß die vielen Autos her – und wie werden wir sie wieder los, Berlin: Alexanderverlag
Insgesamt konnten bis zum Sommer 2025 rund 700 Parkplätze umgenutzt werden und zwar ohne dass es Klagen von Anwohnern gegeben hat. Entscheidend neben einer klaren Sprache und dem dokumentierten und legitimierten politischen Willen sind auch objektive Gegebenheiten wie eine gemischte Quartiersstruktur, eine geringe Fahrzeugbesitzquote und verkehrlichen Alternativen sowie einer Grundversorgung mit Geschäften, Schulen, Ärzten und anderen Angeboten. https://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg/politik-und-verwaltung/aemter/strassen-und-gruenflaechenamt/strassen/mobilitaetswende/artikel.1428814.php