Der virtuelle Essigmeister

Die hier neu konzipierte Prozessführung zur Optimierung der Essigsäurefermentation nutzt die Adaptationsfähigkeit der Essigsäure produzierenden Bakterien (Acetobacter sp.) an hohe Säurekonzentrationen. Ein Fuzzy-Logic-Regelsystem - der „virtuelle Essigmeister“ - schätzt anhand der eingespeisten Messdaten den Säure-Adaptationsgrad, die Vermehrungsfähigkeit und das Umsatzpotenzial der Essigsäurebakterien und steuert den Produktionsprozess. Die erreichte Produktkonzentration wurde auf diese Weise von 18,5% (w/v) auf 21,3% (w/v) im Technikumsmaßstab und auf 20,6% (w/v) in der Industrieanlage gesteigert; gleichzeitig wurde die Produktivität durch eine 10%ige Verkürzung der Chargenlaufzeit erhöht. Unter dem Strich wurden der Wasser- und Energieverbrauch um 16% bzw. 22% gesenkt.
Mit einem Jahresausstoß von 1,6 Millionen Tonnen (bezogen auf 10% Säurekonzentration) nimmt die Essigherstellung einen bedeutenden Anteil an der biotechnologischen Lebensmittelproduktion ein. Aufgrund der geringen Wertschöpfung des Produkts und des steigenden Qualitätsanspruchs der Verbraucher, unternehmen die Essigproduzenten verstärkte Anstrengungen zur Produktivitätssteigerung. Dabei spielt die Erhöhung der Essigsäurekonzentration eine große Rolle; weltweit liegt diese im Mittel bei 13%.

Industrielle Essigherstellung
Bei der fermentativen Gewinnung von Essig kommen Essigsäurebakterien der Gattung Acetobacter, die aus Ethanol Essigsäure produzieren, zum Einsatz. Die allmähliche Säurezunahme im Laufe einer Gärung hemmt jedoch die Mikroorganismen, besonders bei hohen Konzentrationen gegen Ende der Fermentation. Angepasste Stämme vermögen über eine Wechselbelastung, bestehend aus einer Erholungsphase nach Zugabe frischen Mediums am Fermentationsende und einer Stressphase bei hohem Säuregehalt, zeitweise hohe Säurekonzentrationen zu tolerieren. Der Clou des virtuellen Essigmeisters ist es, die Anpassungsfähigkeit der Mikroorganismen direkt im Produktionsprozess für dessen Optimierung zu nutzen.

Prozessumfassender, softwaregestützter Sensor
Literaturdaten und Expertenwissen, d.h. das unpublizierte Know-how in den Köpfen erfahrener Anlagenführer, wurden in ein sogenanntes Fuzzy-Logic-Regelsystem integriert. Ein solcher Ansatz bot sich deshalb an, weil die gesammelten Experteninformationen zur Prozesssteuerung überwiegend qualitativen Charakter hatten. Nach Prüfung diverser Messgrößen und Sonden (pH, Gelöstsauerstoff, Redoxpotenzial, Trübung, Leitfähigkeit) hinsichtlich ihrer Robustheit und Aussagekraft bewährte sich die Erfassung der Trübung als zusätzliche Eingangsinformation des virtuelle Essigmeisters zur Erfassung des biologischen Prozesszustands: Ansteigende Trübung verrät, dass die Essigsäurebakterien sich vermehren, abnehmende Trübung bedeutet, dass mehr Bakterien sterben, als durch Zellteilung neue entstehen. In Verbindung mit anderen Daten beurteilt der virtuelle Essigmeister, ob die Acetobacter-Zellen noch weiter belastbar sind und steigert schlussendlich die Säuretoleranz, und damit die erzielbare Produktkonzentration und die volumetrische Produktivität, durch das fuzzy-gestützte, situative Management des Säurestresses.


Projektziel:
Entwicklung eines prozessumfassenden softwaregestützten Sensors zur Optimierung der Essigsäurefermentation
Projektträger:
Technische Universität München Lehrstuhl für Fluidmechanik und Prozessautomation PD Dr. Thomas Becker Weihenstephaner Steig 23 85354 Freising
Telefon:
08161/71-3670
Fax:
08161/71-4510
URL:
www.wzw.tum.de/lfp/
E-Mail:
tbecker@wzw.tum.de
Versuchsanlage im Technikumsmaßstab
Übersicht zur Fuzzy-Struktur des virtuellen Essigmeisters; mit den beispielhaft dargestellen Eingangs-Fuzzysets (hier Dreiecke) erfolgt eine "Fuzzyfizierung" der konkreten Eingangswerte. Über die Zwischengrößen wird adaptiv eine konkrete Absenkung bzw. Erhöhung der angestrebten Gesamtkonzentration ermittelt.