Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Institut für Allgemeinmedizin
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt
Der Gesundheitssektor spielt eine entscheidende Rolle, wenn es um das gesundheitliche Wohlergehen der Bevölkerung geht. Dennoch ist er auch ein bedeutender Verursacher von Treibhausgasemissionen. In Deutschland entfallen 5,2 % der gesamten nationalen CO₂-Emissionen auf den Gesundheitsbereich.
Es gibt bisher keine Studien, die den CO2-Fußabdruck einer hausärztlichen Praxis in Deutschland quantifizieren. Studien aus der Schweiz und Frankreich schätzen die Gesamtemissionen einer Hausarztpraxis auf 30 bis 40 Tonnen CO2-Äquivalente (CO2e) pro Jahr. Umgerechnet sind das 1,5 bis 5 kg CO2e pro Konsultation. Die Verschreibung von Arzneimitteln hat dabei bei weitem den größten Anteil am CO2-Fußabdruck (zusammen mit den medizinischen Verbrauchsmaterialien 61 %). Da viele dieser Emissionen entlang der Wertschöpfungskette entstehen, sind sie nur indirekt beinflussbar. Gefolgt werden die Emissionen durch die Mobilität (Fahrten) von Patientinnen, Patienten und Mitarbeitenden zur Praxis.
Der Alltag in einer Hausarztpraxis bietet zahlreiche Ansatzpunkte, um Emissionen zu reduzieren. Die Integration nachhaltiger Maßnahmen, wie beispielsweise eine rationale Pharmakotherapie oder der Einsatz umweltfreundlicher Materialien und digitaler Dokumentationssysteme, kann dazu beitragen, die Treibhausgasemissionen von Arztpraxen zu verringern. Dennoch gibt es bisher wenig konkrete, wissenschaftlich fundierte und gleichzeitig praxistaugliche Ressourcen, die Klimaschutz in einer (haus)ärztlichen Praxis umsetzbar machen.
Ziel des DBU-geförderten Projektes Nachhaltige Handlungsmöglichkeiten in einer hausärztlichen Praxis (NaPra) war es, praxisnahe Instrumente und Kompetenzen zu entwickeln, um so klimaschützende Handlungsmöglichkeiten in hausärztlichen Praxen zu fördern. Die entwickelten Handlungsempfehlungen basieren dabei auf einer umfassenden, systematischen und unsystematischen Literaturrecherche. Zusätzlich wurden Umsetzbarkeit und Praxistauglichkeit im Praxisalltag durch Hausärzte und Hausärztinnen sowie Medizinische Fachangestellte (MFA) evaluiert. Darüber hinaus soll eine Einschätzung des CO2-Einsparpotenzials eingebunden werden. Das Endergebnis des Projektes soll einfach anwendbare aber evidenz-und faktenbasierte Webseite für mehr Klimaschutz in hausärztlichen Praxen und mit dem konkreten Ziel den CO2-Fußabdruck einer Praxis zu senken sowie das Bewusstsein für Nachhaltigkeit im gesamten Praxisteam zu verankern
Das Projekt umfasste zwei Arbeitspakete (AP): Das erste AP sah Recherche, Entwicklung und Evaluation von nachhaltigen Handlungsempfehlungen für hausärztliche/ambulante Praxen vor. Das zweite AP umfasste die Umsetzung der nachhaltigen Handlungsempfehlungen in eine digitale Ressource (Webseite) und deren zielgruppenspezifische Evaluation hinsichtlich der Nutzerfreundlichkeit (Usability). Die Laufzeit des Projektes betrug 12 Monate.
Für die inhaltliche Entwicklung der Handlungsempfehlungen wurde eine umfassende systematische und unsystematische Literaturrecherche (Scoping Review) in wissenschaftlichen Datenbanken (Pubmed, Web of Science und Google Scholar) im ersten Quartal 2024 durchgeführt.
Die extrahierten Handlungsempfehlungen wurden auf praktische Umsetzbarkeit und Relevanz aus Sicht potentieller Anwender und Anwenderinnen - mittels Fokus-Gruppe - bewertet. Die Auswahl der Teilnehmenden beschränkte sich daher auf Hausärzte und Hausärztinnen (HÄ) sowie auf Medizinische Fachangestellte (MFA). Die Fokus-Gruppe fand Mitte April und hatte einen zeitlichen Rahmen von 2 Stunden. Aufgrund der Fülle der recherchierten Handlungsempfehlungen wurde eine zusätzliche Online-Befragung im Anschluss der Fokusgruppe durchgeführt. Die zentrale Fragestellung war auch hier die Relevanz und Umsetzbarkeit der restlichen Handlungsempfehlungen zu bewerten.
Die zweite Phase des Projektes bestand aus der Aufbereitung der Handlungsempfehlungen und den Ergebnissen der Evaluation für eine Darstellung auf einer Webseite sowie deren technische Umsetzung. Für inhaltliche Aufbereitung der Handlungsempfehlung mussten beschreibende Texte, zusätzliche Quellen hinzugezogen werden. Die zusätzliche Darstellung des CO2-Einsparpotenzials der einzelnen Maßnahmen erforderte eine weitere, gezielte Literaturrecherche. Die technische (Seitenstruktur, Navigation, Domäne und Hosting) und graphische Gestaltung wurde durch eine beauftragte Webseitenagentur übernommen. Ein Content Managementsystem (CMS) ermöglicht auch nach Projektende eine Aktualisierung der Webseiten-Inhalte durch das Projektteam. Die Evaluation der Nutzerfreundlichkeit erfolgte durch Usability-Tests mit der potentiellen Anwendergruppe (HÄ & MFA).
Aus insgesamt 7271 recherchierten Quellen konnten 103 Publikation für die Entwicklung von nachhaltigen Handlungsempfehlungen eingeschlossen werden. Es wurden 13 Themenbereiche identifiziert, aus den 132 Handlungsempfehlungen abgeleitet werden konnten. Die Themenbereiche umfassten: Energieverbrauch, umweltfreundliches und rationales Verordnungs-verhalten, Abfallmanagement, medizinische Verbrauchsmaterialien, Finanz und Qualitäts- Management, Nachhaltiger Lebensstil, Mobilität, Büro-/Praxisorganisation, Digitalisierung, Vermeidung von Überversorgung, Gebäude/Grundstück, Reinigung/Hygiene und Wasserverbrauch. Die meisten Handlungsempfehlungen waren im Bereich: Pharmakotherapie, Mobilität, Büromanagement, Energie(verbrauch) und als Querschnittsbereich Finanz- und Qualitätsmanagement zu finden.
Eine Einschätzung der Relevanz und Umsetzbarkeit der Handlungsempfehlung erfolgte durch acht Teilnehmende der Fokusgruppe und durch sechs Teilnehmende an der Befragung. In der Fokusgruppe wurden 17 Handlungsempfehlungen aus den Themenbereichen: Umweltfreundliche Verschreibungen, rationale Pharmakotherapie, medizinische Verbrauchsmaterialien und Büro-/Praxisorganisation, Mobilität, Digitalisierung, Energieverbrauch und nachhaltige Lebensstilberatung evaluiert. Inhaltlich wurden von der Mehrheit der Teilnehmenden die Co-Benefits für Umwelt und Patientengesundheit hervorgehoben. Als generelle Barrieren wurden: Zeitmangel, Mangel an Wissen und Mangel an politischen Rahmenbedingungen und gesetzlichen Regelungen gesehen. Die Umsetzbarkeit der Maßnahmen konnte überwiegend als „leicht“ (43 Handlungsempfehlungen) oder „mittel“ (33 Handlungsempfehlungen) eingeschätzt werden, nur 14 Empfehlungen wurden als „schwierig“ umsetzbar bewertet.
Die Aufbereitung der Inhalte für die Webseite sowie technische und graphische Umsetzung erfolgte fristgerecht. Der Prototyp der Webseite diente als Click-Dummy für die Usability-Tests. Insgesamt wurden sechs Testpersonen rekrutiert. Der Stand der Website (30.10.2024) wurde insgesamt als ansprechend und zielführend empfunden. Die Testpersonen empfanden die Übersicht der Themenbereiche als auch die einzelnen Handlungsempfehlungen als verständlich und gut strukturiert. Es gab Änderungsvorschläge, die sich vor allem auf die Darstellung der Quellen und die Umsetzung des CO2-Einsparpotenzials bezogen. Diese wurden entsprechend umgesetzt, so dass die NaPra-Webseite Anfang Dezember 2024 unter der Adresse napra.info erfolgreich gelauncht werden konnte.
Das Endergebnis des NaPra-Projektes ist eine wissenschaftlich valide und umfassend evaluierte, kostenfreie digitale Ressource für nachhaltige Handlungsempfehlungen für hausärztlichen Praxen. Für die Weiterverbreitung und Veröffentlichung der Webseite wurde im Dezember 2024 - Januar 2025 ist eine gezielte Werbekampagne durchgeführt, um die Bekanntheit der Webseite zu erhöhen. Die angesprochen Gesundheitsakteure waren in erster Linie Hausärzte und Hausärztinnen, Berufsverbände sowie Krankenkassen und Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs). Die überwiegende Mehrheit hat ein positives Feedback gegeben und Unterstützung bei der Verbreitung der Webseite zugesagt. Zudem werden die Ergebnisse des Scoping Reviews sowie der Fokusgruppe und der quantitativen Befragung durch wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht und auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin durch zwei Beiträge vorgestellt.
NaPra ist eine kostenfreie, digitale Ressource in Form einer Webseite: napra.info. Dort sind wissenschaftlich-fundierte und praxistaugliche Handlungsempfehlungen zum Klimaschutz in der Hausarztpraxis veröffentlicht. Neben der Einschätzung der Umsetzbarkeit ist auch (wo möglich), das CO2 -Einsparpotenzial dargestellt. Die Nutzer und Nutzerinnen der Informationsressource sollen einen schnellen Überblick über die möglichen Maßnahmen bekommen, aber auch aufgrund von Umsetzbarkeit und Einsparpotential Maßnahmen priorisieren können. Da der Faktor Zeitmangel oft als Barriere für die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen wahrgenommen wird. Außerdem überschneiden sich viele der in NaPra aufgeführten Handlungsempfehlungen mit wichtigen Themen der Patientenversorgung, wie Patientensicherheit, Qualitätsmanagement, evidenzbasierter Medizin und Kosteneffizienz. Das schafft nicht nur Co-Benefits für Patienten und Patientinnen, Ärztinnen und Ärzte und der Umwelt, sondern für das Gesundheitssystem als Ganzes. Damit weist NaPra auf das enorme Potenzial bei Umsetzung von Nachhaltigkeits- bzw. Klimaschutzmaßnahmen in der Primärversorgung hin. Dennoch müssen dafür politische Rahmenbedingungen für eine gesetzliche Verankerung geschaffen werden, damit die Umsetzung der Maßnahmen nicht (nur) auf Freiwilligkeit beruhen.